Sibirien - Das Land, das schläft

Wer nie in Sibirien gewesen ist, nie die endlose Weite der Taiga erlebte, nie den Baikal sah und nie mit Freunden gefeiert hat - auf dessen Grab wird einst das Unkraut wachsen.
Wir wollen darauf trinken, daß auf unseren Gräbern einmal Rosen blühen.

(Ludmilla, am Abend unserer Ankunft in Listwjanka am Baikal-See)

Moskau, Flughafen Scheremetjewo. Die Antwort "Sibirien" auf die Frage, wo es denn hingehen solle, löst bei dem russischen Grenzbeamten schallendes Gelächter aus. Nein, das kann er sich nicht vorstellen, freiwillig und dazu noch im Winter in dieses gottverlassene Land zu reisen. Sichtlich bemüht, seine Heiterkeit unter Kontrolle zu halten, widmet er sich ausgiebig dem Studium der Pässe. "Maria" sei ein schöner Name, kommentiert er anerkennend, so als wolle er uns wieder Mut machen. Auch seine Großmutter habe so geheißen. Außerdem - so erläutert er beiläufig - handele es sich dabei eigentlich um einen russischen Namen. Oft sind es die kleinen Dinge, die die Völkerverständigung erleichtern ...

Moskau - Irkutsk. Man muß sich im wahrsten Sinn des Wortes warm anziehen und sich mit Grundnahrungsmitteln eindecken. Heizung und Bord-Service werden bei Inlandsflügen auf ein Minimum gedrosselt. Die Erfolgsformel ist einfach: Um eine Menge Mensch x von a nach b zu schaffen, ist Champagner nicht erforderlich. Statt dessen serviert die unförmig vermummte immer freundliche Towarisch-Stewardeß eine klebrig-süße Flüssigkeit unbekannter Geschmacksrichtung. Wir wissen nun, warum erfahrene Aeroflot-Vielflieger im Handgepäck stets eine Notration Wodka dabeihaben.

In der Nacht Zwischenlandung in Nowosibirsk. Die Ohren schmerzen, so schnell sinken wir. Doch wo wollen wir überhaupt landen? Der skeptische Blick aus dem Seitenfenster irrt haltlos über die gleichförmig schimmernde schneebedeckte Taiga. Als wir schon fast die Baumwipfel streifen, taucht voraus eine breite Schneise auf, ein längliches weißes Band. Fast unmerklich setzen wir auf der unbeleuchteten Schneepiste auf. Respekt. Es ist beruhigend zu wissen, daß im Cockpit Könner am Werk sind.

West-Touristen genießen besondere Privilegien. Während die übrigen Mitreisenden in der eisigen Kälte am Flugfeld Gelegenheit zu gymnastischen Lockerungsübungen erhalten, fährt uns ein Bus zum fernen Flughafengebäude. Hunderte Menschen lagern hier und warten auf Anschlußflüge. Kaum weniger Spatzen haben die Halle für sich als Winterquartier erschlossen.

In Erfüllung eines rätselhaften Plans werden wir in schnellem Schritt in den Berijoschka-Laden geführt. Laut Plan haben wir jetzt den Wunsch, Andenken zu kaufen. Während wir noch unschlüssig herumstehen, ist die vorgesehene Einkaufszeit abgelaufen und Towarisch-Stewardeß drängt zum Aufbruch.

Ankunft Irkutsk, 04:10 morgens. Ludmilla, unsere Reiseleiterin, begrüßt uns. Sie ist ein Schatz. Mit Güte und Strenge wird sie uns führen und immer wissen, was für uns das Beste ist. Das allein wird Maßstab ihres Handelns sein.

Hotel Baikal, Listwjanka. Vom Zimmer (mit Balkon) haben wir freien Blick auf die in der Mittagssonne glitzernde unermeßliche Eisfläche des Sees. Im fernen Dunst erahnt man die Konturen des Chamar-Daban-Gebirges.

Die Zimmer sind zweckmäßig, das Möbeldesign - zeitlos.

Regulierungsversuche an der Heizung scheitern. Es ist Winter, daher glüht sie. Nachts steuern wir die Zimmertemperatur durch den Öffnungswinkel des Fensters.

Frühsport. Das Thermometer steht bei -38º. Man muß aufpassen, denn das eigene Empfinden wird getäuscht. Die trockene Luft, die ewig scheinende Wintersonne, fast völlige Windstille lassen einen die Kälte kaum spüren.

Wir lernen, die kalte Luft langsam durch die Nase einzuatmen, uns gegenseitig auf weiße Flecken im Gesicht zu überprüfen, exponierte Körperstellen regelmäßig zu massieren.

Die Anpassung der Langlaufskier geht problemlos vonstatten. Fachkundige Improvisationstalente übernehmen die individuelle Anpassung. Statt hochspezialisierter Feinwerkzeuge kommt Bewährtes zum Einsatz: schwungvoll geführter Hammer und kraftvoll zupackende Zange.

Die Loipe ist weitgehend naturbelassen, d.h. man muß sich eher auf einen Cross-Lauf über Stock und Stein einrichten. Es empfiehlt sich, Abstand zum Vordermann zu halten, auf seinen Aufschrei zu achten und stets nach geeignetem Sturzraum Ausschau zu halten.

Wer seinen Laufstil vervollkommnen möchte, sollte in den Alpen bleiben. Wer hierher kommt, sucht etwas anderes, Abenteuer vielleicht und das Erlebnis Natur. Und er wird es finden.

Die Taiga. Eine Winterlandschaft von unbeschreiblicher Schönheit. Ist man allein, kann man die Stille fast greifen. "Sib-ir" nannten die Tataren einst dieses Land - "Das Land, das schläft".

Mit Panjepferd und Schlitten geht es hinaus. Stunde um Stunde: Immer gleich und doch immer anders. Das zottige Fell des Pferdes ist vom eigenen Atem mit Eis überzogen.

Auf einer Lichtung machen wir Rast. Am Feuer wird Fleisch gebraten und Schnee für Tee geschmolzen. Der starke Tee muß mit Wodka verdünnt werden.

Was wäre ein Zusammensein unter Freunden ohne Gitarre und Lieder? Russische Lieder: Man meint sie zu kennen, auch wenn man sie nie vorher gehört hat. Mitsummen kann jeder. Anfangs schwungvoll und heiter werden die Melodien mit zunehmendem Teegenuß schwermütiger.

Russischkurs, täglich, 16:00 Uhr. Gemütlich lassen wir es angehen. Es wird noch ein Schwätzchen gehalten, eine Anekdote ausgetauscht, gekramt, ein frischer Tee am Samowar gezapft. Da platzt Ludmilla der Kragen. Ihre Worte treffen ins Mark. Von Disziplin ist die Rede, von Pünktlichkeit, von Urtugenden der Deutschen. Aufgeschreckt eilen wir auf unsere Plätze. Das Ansehen einer Nation steht auf dem Spiel.

Das alte Dorf am See. Kleine sibirische Holzhäuser, dicht an dicht, jedes mit kleinem Nutzgarten. Sorgfältig geschnitzte Fensterläden: Fensterläden und blütenweiße Gardinen sind die Visitenkarte der Hausfrau. Trinkwasser wird aus einem freigehaltenen Eisloch des Sees geschöpft. Im einzigen Geschäft, dem "Magasin", gibt es eingemachte Gurken zu kaufen. Sonst nichts.

Eis

Wir wandern weit auf den See hinaus, so weit bis außer Himmel und Eis nichts mehr zu sehen ist. Das Ufer ist im Dunst verschwunden. Nur Geräusche bleiben, das Surren, Grummeln, Pfeifen und Knacken des Eises unter uns. Man hat das Gefühl, auf einem fremden Planeten zu sein. Gut 2 m dick ist die Eisdecke, die sich in Ufernähe zu riesigen Schollen auftürmt. An den Anblick auf dem Eis fahrender LKWs, Busse, selbst Motorräder gewöhnt man sich schnell. Die Fahrwege sind mit kleinen Fichten markiert und im Winter die einzigen Verbindungen zur Versorgung abgelegener Ortschaften.

Später wird ein Wissenschaftler des Limnologischen Instituts bemüht sein, uns das Einzigartige des Baikalsees zu verdeutlichen. Mit 1,6 km tiefster Binnensee aller Kontinente, beinhaltet er knapp 20% des gesamten Süßwasservorrates der Erde. 650 km lang und bis zu 80 km breit, 336 Zuflüsse und nur einen Abfluß, die mächtige Angara. Den Wasserinhalt der fünf Großen Seen Nordamerikas könnte er bequem aufnehmen. 75% der Flora und Fauna des Sees sind auf der Welt ausschließlich hier anzutreffen. Aber auch auf die Probleme geht er ein. Der mit aller Macht vorangetriebenen Industrialisierung hatte sich bis in die achtziger Jahre alles unterzuordnen, gerade auch der Umweltschutz. Heute ist es ein Wettlauf mit der Zeit. Obwohl die ganze Region längst unter Naturschutz gestellt worden ist, vergiften vor allem Cellulose- und Papierindustrie das Wasser nachhaltig. Vierhundert Jahre dauert es, bis ein Eimer Giftstoffe wieder aus dem See abgeflossen ist. Entsprechend langsam greifen Regenerationsprozesse - ob sie erfolgreich sein werden bleibt zweifelhaft.

Disco-Fieber. Eine rauchgeschwängerte Halle mit dem Charme eines Flugzeughangars ist abendlicher Treffpunkt für Einheimische. Flakscheinwerfer sorgen mit farbig kreisenden Strahlenbündeln für stimmungsvolles Ambiente. Rock- und Popmusik aus aktuellen Charts - präsentiert mit ohrenbetäubendem Lärm aus überdimensionalen Boxen - zeigt, daß man das Niveau westlichen Kulturanspruchs längst erreicht hat. Wir nicken anerkennend in die Runde. Dann wird uns eine besondere Ehre zuteil. Nach einer kurzen Unterbrechung hören wir ein dünnes Stimmchen von 99 Luftballons singen und von 99 Düsenfliegern. Man will uns eine Freude machen und schaut erwartungsvoll herüber. Wir lächeln dankbar zurück ...

Auf dem Hof hinter der Disco ist der Bus- und LKW-Abstellplatz. Wir müssen uns erst daran gewöhnen, daß die Motoren nachts durchlaufen. Energie ist nicht das Problem, wohl aber eingefrorenes Kühlwasser, entleerte Batterien und ausflockender Kraftstoff.

Russen und Deutsche. Mit einer russischen Sportlergruppe, die hier trainiert, sitzen wir lange zusammen. Deutsch steht hoch im Kurs. Die Deutsche Welle ist so bekannt wie die wichtigsten einheimischen Sender. Erst in letzter Zeit holt das Englische auf - aber die Achtung vor allem Deutschen ist hoch.

Die Sprachregelungen werden konsequent eingehalten: Der große Vaterländische Krieg wurde gegen die Nazis geführt - nicht gegen die Deutschen; die Deutschen würden niemals gegen die Russen Krieg führen, dazu sind die Deutschen zu sehr Freunde der Russen.

Wir können die Neugier kaum befriedigen. Die politische Situation ist allen bekannt - aber das alltägliche Leben? Die vielen Arbeitslosen! Wie sie zurechtkommen? Ob wir Kapitalisten sind? Wieviel Miete wir zahlen? Ob wir ein Auto haben? Gerne würden sie Deutschland mal sehen. Vielleicht schaffen sie es ja als Sportler. Auch über ihre Träume sprechen sie. Von adidas, einer kleinen Familie, einer Wohnung, nicht hier in Sibirien, sondern zuhause - in Rußland.

An einem anderen Abend wird Brüderschaft getrunken mit einem russischen Artillerie-Offizier. Wir stoßen an auf den Frieden in dieser schlechten Welt, auf Rußland, auf Deutschland und die unverbrüchliche deutsch-russische Freundschaft. Auf die Guten, denn wir sind wenige! Wir müssen ihn besuchen, sagt er. Seine Geschützbatterie steht an der afghanischen Grenze. Beim Abschied umarmen wir uns. Er weint.

Dorf und Gastgeber Nikola - zu Gast bei einer russischen Familie. Da stehen wir nun. Acht Mann hoch und warten, daß jemand auf unser Klopfen reagiert. Endlich erscheint das bäuerliche, freundlich fragende Gesicht der Hausherrin im Türrahmen. Ob ihr Mann zuhause sei, fragen wir, der habe uns doch gestern hierher eingeladen. Sie lacht herzlich, nein, den habe sie schon seit 3 Tagen nicht mehr gesehen. Und willkommen seien wir auch ohne den Mistkerl. Wie alte Freunde begrüßt sie uns, führt uns durch das kleine Haus, drängt uns - keinen Widerspruch duldend - Platz zu nehmen. Mittelpunkt des Hauses und des Lebens ist natürlich der riesige Ofen, von dem jedes Zimmer seinen Teil abbekommt. Die "gute Stube" ist mehr Ausstellungs- als Wohnraum. Wir bewundern die Kostbarkeiten ausgiebig (das wird erwartet), loben die feine Häkelarbeit der Deckchen, die schönen Gardinen und freuen uns über den Ehrenplatz, den ein Ausschnitt aus einer deutschen Zeitung gefunden hat. Direkt neben dem Kruzifix, liebevoll an die Wand geheftet: der rosarote Elefant der Deutschen Bundesbahn. Nie erschien er uns vertrauter.

Fotos werden herumgereicht. Es sind wenige, jedes erzählt eine Geschichte. Zwischendurch - wie macht sie das nur? - wird Holz geholt, der Teekessel mit Schnee gefüllt, werden die Kartoffeln geschält und in einer riesigen Bratpfanne mit Speck und Zwiebeln gebraten. Dazu Preiselbeeren. Kein 3-Sterne Gourmet-Schuppen könnte da mithalten.

Die Wölfe sind hungrig in diesen strengen Wintern, bis in die Ortschaften dringen sie vor, die Kinder darf man nicht allein auf die Straße lassen, schimpft sie. Ob das denn in Deutschland auch so schlimm sei? Nein, sagen wir, bei uns gibt es längst keine Wölfe mehr. Aber Bären, fragt sie hoffnungsvoll, wie es denn mit den Bären sei? Selbst Pferde wären hier nicht sicher vor ihnen. Fast schämen wir uns, als wir wieder verneinen müssen. An ihrem unsicheren Lächeln merken wir, daß Zweifel an unserer Glaubwürdigkeit auftreten, zumindest der Eindruck, daß das wohl ein merkwürdiges Land sein muß, dieses Deutschland ...

Der Abschied - wie immer - bewegend und herzlich. Gastfreundschaft ist höchstes Gut. Beschämt machen wir uns auf den Heimweg und spielen in Gedanken durch, wie wir uns verhalten würden, wenn unerwartet acht Fremde an unserer Tür Einlaß begehrten. Wahrscheinlich würden wir die Polizei rufen.

Auf der Landstraße packt uns ein eisiger Sturm mit voller Wucht. Meter um Meter müssen wir uns vorwärtskämpfen. Das aufkommende Scott-Amundsen-Feeling findet in Form eines Linienbusses ein jähes Ende. Wie selbstverständlich hält er und nimmt uns auf. Unter dem Riesenhallo aller Insassen und in gemeinsamer Anstrengung schaffen wir es, uns in das bereits hoffnungslos überfüllte Gefährt hineinzuquetschen. Der Dunst im Bus ist zwar fast unerträglich, aber wen stört das schon? Man nickt uns zu, lachende Gesichter um uns herum.

Bis vor das Hotel bringt er uns, der Gute. 4 km Umweg - nur für uns. Doswidanje, spassiba, spassiba rufen wir und winken und sind froh, daß Ludmilla in der ersten Russischstunde so streng mit uns war.

Abschied. Es soll ein Festessen werden. Die Tische biegen sich unter der Last von Krimsekt, Wodka, Kaviar, Lachs, Wurst, Käse, verschiedensten Brotsorten. Es fehlt an nichts. Absoluter Höhepunkt und vielbestaunt: Jeder bekommt eine dicke Orange.

Gutgelaunt nehmen wir Platz, doch wir sind nicht schnell genug. Was als aufgeregtes Tuscheln im Eingang begann, entpuppt sich als präzise vorbereiteter Schlag der Hotelführung. Die ehedem so freundlichen Kellnerinnen räumen in einer Blitzaktion alle Tische wieder ab - als erstes werden die Orangen in Sicherheit gebracht.

Ludmilla ist entsetzt. Lange Diskussion. Nach einigem Hin und Her stellt sich heraus, daß - aus welchen Gründen immer - unsere Reisekasse überzogen ist. Um welchen Betrag es sich denn handele, wollen wir wissen. Erneute Diskussionen. Umfangreiche Berechnungen werden geführt, kontrolliert, verworfen und neu zusammengestellt, bis schließlich das Ergebnis verkündet werden kann: 12,50 DM für jeden. Das wird zu schaffen sein. Erleichterung überall. Die Kellnerinnen sind noch freundlicher als sonst. Alles kommt wieder an seinen Platz zurück, zum Schluß sogar für jeden eine dicke Orange.

Es wird ein langer Abend. Trinksprüche fordern hohes Stehvermögen. Ludmilla erzählt:

Ein Schiff gerät auf dem Baikalsee in schweren Sturm, kentert und sinkt. Nur der Kapitän, der 1. Offizier und der Leitende Ingenieur überleben. Die Kräfte schwinden, da ruft der Leitende Ingenieur hinauf in den Himmel: "Herr laß es Holz regnen, für jede Treulosigkeit meiner Frau einen Baum." Nichts passiert, ermattet gibt er auf und muß ertrinken, der Arme. Auch der 1. Offizier versucht es: "Herr, verlaß mich nicht, laß Holz vom Himmel fallen, reichlich, soviel wie mich meine Frau bisher betrogen hat". Tatsächlich öffnet sich der Himmel, aber nur ein winziges Stück trudelt herunter. Zuwenig, auch er versinkt in den Fluten. Schließlich der Kapitän, mit letzter Kraft: "Erhöre mich, Herr, schick mir das rettende Holz, wenigstens einmal wird meine Frau mich doch hintergangen haben?" Unablässig stürzen Baumstämme vom Himmel und der Kapitän kann sich retten.
Wir wollen trinken auf alle Frauen, die ihre Männer in der Stunde der Not nicht im Stich lassen.

Nasdrowje.


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